Hallo,
ganz genauso wie auf der Aufnahme bekommt man es sicher nicht hin und der Bandsound spielt zweifellos auch eine sehr große Rolle. Wenn man sich allerdings bei den Bauteilen und den Schaltungen ausschließlich dort festlegt, wo man vor 30 oder 40 Jahren schon war, nimmt man sich die Möglichkeit, überhaupt weiter und näher ans Ziel zu kommen.
Ich denke, was viele Gitarristen so konservativ nach hinten schauen läßt, ist, daß es so etwa ab Mitte der 80iger Jahre eine Tendenz zu immer schärferen, kratzigeren und synthetisch klingenden Gitarrensounds gab - bedingt durch entsprechende Amps und Zeitgeist. Das waren in meinen Ohren Sounds, bei denen wir früher nur gesagt hätten - was ist denn das für ein billiger Transistorbratz. Als Mitte der 70 iger mein damaliger Co-Gitarrist mit einem Ibanez Tube Screamer ankam und vor seinen Hiwatt schaltete, empfand ich das als eher billige Notlösung. Immerhin waren die Dinger erträglicher als die meisten anderen Verzerrer. Den Voodoo-Kult um diese alten Teile kann ich allerdings nicht nachvollziehen.
Dazu kam dann in den 90iger Jahren, daß die Amps immer billiger produziert werden und heute wohl kaum mehr Lebenserwartung als ein PC haben - sprich 3 - 5 Jahre. Früher hielten die Kisten 30 - 40 Jahre.
Mit anderen Worten: Das meiste von dem was heute so an Industrieprodukten angeboten wird und angeblich vintage, warm klingend usw. sein soll, ist ein müder Abklatsch von dem, was früher einfach nur Standard war. Viele jüngere Gitarristen haben auch nie etwas anderes kennengelernt und ihre Hörgewohnheiten darauf eingestellt.
Das ist auch deshalb so bedauerlich, als es heute technisch viel mehr Möglichkeiten gibt, wesentlich bessere Produkte herzustellen - es wird aus Kostengründen aber meist nicht getan und die Nachfrage nach dem Schrott ist zumindes bei den jüngeren ja auch im großen Stil gegeben.
Trotzdem hat sich in den letzten paar Jahren eine Tendenz eingestellt, sich mal wieder daran zu erinnern, das viele Amps und Gitarren vor 30 Jahren eigentlich lebendiger und ohrenfreundlicher klangen als vieles, was man heute so bekommt. Nicht zuletzt sind die Teilnehmer des Forums ja deshalb auch am Modifizieren und Amp-Basteln und es gibt solche Anbieter wie TubeTown.
Andererseits muß man ja nicht da stehen bleiben, wo es vor 30 Jahren gut war , nur weil zwischendurch sehr viel Müll produziert wurde. Man kann ja auch die tollen Dinge von früher mit den erweiterten Möglichkeiten von heute kombinieren und ein paar Schritte in der Evolution der elektrischen Gitarre weiter gehen. Die Amps von vor 30 oder 40 Jahren waren in Ihrer Art toll, aber sind nicht das Ende der Fahnenstange.
Ein Beispiel, was so möglich ist: Neben meiner Röhrenbastelei habe ich mir vor einigen Jahren einen alten MusicMan 150W Amps zugelegt, als ich nebenbei als Bassist spielte. das Ding hat eine Röhrenendstufe und Vorstufe und PI mit OP-Amps. Integriert ist eine Diodenverzerrerschaltung.
Das war und ist eigentlich mein Bass-Amp. Er hat aber einen zweiten Kanal und den habe ich mir mit der Absicht "Notamp für die Gitarre" modifiziert. Irgendwann fing ich dann zusätzlich mit Bauteileupgrades an - Fred-Dioden, Vishay Dale Widerstände, bessere OP-Amps, bessere Kondensatoren usw. Der Amp klang damit schon deutlich besser als er je geklungen hat - nicht nur Clean sondern auch im Crunch für Gitarre und als Bass-Amp ebenfalls.
Als Ergänzung habe ich mir dann mit ebenso guten Bauteilen ein Overdrive Pedal mit eigener Schaltung zusammengebaut.
In Kombination klingt das schon sehr anständig (Rory, Ritchie, Eric usw.) - man könnte es auch für einen reinen Röhrenamp halten. Kürzlich hatte ich eine Session u.a. mit einem Gitarristen, der seinen JCM 800 (2204) dabei hatte. Ich hatte meine obige Kombination dabei und ich sagte irgendwann: Na ja für Dioden- und OP-Amp Zerre klingt es doch ganz brauchbar, worauf der andere Gitarrist meine, daß er froh wäre, wenn sein Marshall so klingen würde, wie mein MM mit Overdrive. Nachsatz von ihm: "Über den Amp geht doch kaum noch etwas rüber". Das sehe ich zwar nicht ganz so, zumal mein aktuelles - im Overdrive-Kanal fertiges - Röhrenamp-Projekt da schon noch das gewisse Etwas oben drauf setzt - mit optimierten Bauteilen und komplett eigenem Schaltungsdesign.
Die Story soll zeigen: Wenn es schon möglich ist, mit Dioden und OP-Amps soweit zu kommen, daß jemand mit einem 2204 fast neidisch wird, was ist dann erst möglich, wenn man das Potential der Röhrenamps weiter ausschöpft.
Also - ganz der CD-Sound wird es nicht nie werden, aber man kann mit den Amps schon sehr nah ran kommen - nicht nur voll "aufgepowert", sondern auch zu Hause mit "Mäuserohr". Experimentieren lohnt sich.
Gruss,
DocBlues